Theodor Reuss’ Büchlein, Lingam-Yoni oder die Mysterien des Geschlechts-Kultus, erschien 1906 unter dem Pseudonym „Pendragon“ im „Verlag Willsson“ – einem Decknamen für Reuss selbst. Laut Titelblatt stützte er sich auf „alte und geheime Dokumente eines Ordens“, tatsächlich handelte es sich aber kaum um mehr als eine Übersetzung bzw. Kompilation aus den Schriften des viktorianischen Phallusforschers Hargrave Jennings (Phallicism, Celestial and Terrestrial, 1884; Illustrations of Phallicism, 1885; Phallism, 1889).
Der Text selbst entfaltet sich in einer einzigen Tonlage: Alles – von indischen Tempeltürmen über christliche Kuppeln bis hin zu den Kreuzen von Palenque oder den Haingöttern der Hebräer – wird auf die dyadische Einheit von Lingam und Yoni zurückgeführt. „Alle diese Türme, Kuppeln und christlichen Tempelgebäude sind Reproduktionen […] des aufrechtstehenden Phallus“ (S. 105). Selbst das Kreuz zerfällt in seine Grundelemente: „der Querbalken […] das weibliche Reproduktionsorgan […] der senkrechte Balken […] das männliche“ (S. 119). Die argumentative Struktur folgt einem kumulativen Prinzip: möglichst viele Beispiele aus unterschiedlichen Kulturkreisen werden addiert, um die behauptete Universalität zu stützen. Die Belege sind nicht systematisch kontextualisiert: Datierungen, lokale Bedeutungen und kulturinterne Quellen fehlen. Vielmehr werden Kreuzformen unterschiedlicher Epochen und Regionen ohne Differenzierung zusammengestellt. Die Methode ist durchsichtig: Wo Quellen mehrdeutige Lesarten zulassen, verengt Reuss den Interpretationsspielraum, bis am Ende jede Symbolik zur Sexualallegorie wird. Viele Textstellen deuten auf eine Grundannahme, dass Fruchtbarkeit/Sexualität das „Ur-Prinzip“ aller Religion sei (implizit S. 105; 119; 123). Diese Leitprämisse steuert die Quellenauswahl. Das ägyptische Crux Ansata mag Lebenszeichen, Nil-Schlüssel oder königliches Emblem gewesen sein – bei Reuss ist es unweigerlich ‚männlich‘ und ‚weiblich‘ (S. 123). Dass er es zuvor auch als ‚Schlüssel der Hölle und des Todes‘ (S. 122) etikettiert hat, stört ihn nicht: die Vielstimmigkeit der Symbolik wird kurzerhand zur Einbahnstraße umgedeutet – ein Verfahren, das gerade die behauptete Eindeutigkeit untergräbt. Auch das Alte Testament, das Reuss ausschließlich in Luthers Übersetzung zitiert, versieht er kurzerhand mit dem Etikett ‚Lingam-Yoni‘ (S. 126–128). Hier zeigt sich eine systematische Übertragung indischer Terminologie („Lingam-Yoni“) auf den alttestamentlichen Kontext – ohne Beleg aus Primärquellen. So entsteht eine „Universalgeschichte des Phallus“, deren suggestive Kraft aus radikaler Gleichmacherei resultiert, quellenkritisch jedoch auf tönernen Füßen steht. Auffällig ist, dass der Text selbst keinerlei expliziten Bezug zum O.T.O. nimmt. Warum? Es gab ihn noch gar nicht, respektive war er 1906 noch im embryonalen Zustand. Gleichwohl wird in der Anlage die Stoßrichtung erkennbar: die Konstruktion einer angeblich uralten, universalen Sexualmysterien-Tradition, aus der der Orden später sein Selbstverständnis speisen konnte. Inhaltlich ist das Buch weniger religionswissenschaftliche Analyse als vielmehr ein programmatischer Entwurf. Reuss konstruiert eine Traditionslinie, die seinen baldigen O.T.O. als Erben eines angeblich uralten, weltumspannenden Geschlechtskultes ausweist. Seine Beweisführung lebt von Formähnlichkeiten, Analogien und kühnen Umdeutungen, was weniger als Fehler denn als rhetorische Strategie zu verstehen ist: disparate Materialien werden in eine einzige machtvolle Tradition destilliert. Im kulturellen Klima um 1900 war diese Fixierung auf Sexualsymbolik kein Einzelfall. Sigmund Freud hatte bereits Die Traumdeutung (1900) und die Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) vorgelegt, doch deren Wirkung war noch begrenzt. Eine direkte Freud-Rezeption durch Reuss ist daher unwahrscheinlich. Beide schöpften aus demselben fin de siècle-Diskurs, der Sexualität als „Urgrund“ religiöser wie psychischer Phänomene verstand. Freud untersuchte Träume und Neurosen, Reuss Tempel und Sakramente. Gemeinsam war beiden die phallozentrische Deutungslust, doch methodisch und institutionell liefen ihre Strömungen auseinander. Mit der Ernsthaftigkeit eines viktorianischen Kompilators entwarf Reuss eine Theorie des „universalen Phallus“, die er zugleich zur Legitimation eines modernen okkulten Ordens heranzog. Lingam-Yoni gibt sich als religionswissenschaftliche Aufklärung, wirkt bei näherem Hinsehen jedoch wie ein Manifest über die Ursprünge des eigenen Vereinslebens. Die „Mysterien des Geschlechts-Kultus“ erklären weniger die alten Religionen, als dass sie die Selbststilisierung des O.T.O. vorbereiten. |
Inhalts-Verzeichnis. Einleitung. Kapitel I. Ursprung des Gegenstandes des Werkes. Eigenthümlichkeit desselben. Definition von Phallusdienst. Phallaphoroi. Alter des Phallusdienstes. Alte Eidesformel. Pegasus und die Bacchus-Statuen. Siwa (oder Schiwah) und Prakriti. Fest der Fackel. Lucian und die syrische Göttin. Gemeinsamer Ursprung des Paganismus. Pagan-Zeremonien. Phallismus in Dahome. Die Entwicklung des Phalluskultus. Reinheit des Ursprungs. Auswüchse und Missbrauch. Phallische Anklänge in England. Kapitel II. Phallismus in den verschiedensten Ländern. Khem in Aegypten. Verrohung des Kultus in Aegypten. Der Phallus-Schwur. Gebräuche in Wales. Das Zwitter-Element. Charakter des Phallus. Phallus-Symbole der Gegenwart.Herodot und Bacchanalien. Priapus in Rom und Griechenland. Maachah, ein Priapus-Verehrer. Belphegor. Auswüchse des Priapusdienstes. Herkunft des römischen Priapus aus Aegypten. Catullus über Priapus-Verehrung. Formen des Priapusdienstes. Phallismus im allgemeinen. St. Augustinus. St. Fontin und Priapus. Phallismus in Frankreich. Neapolitanische Feste. Der Maibaum in Indien und Europa. Kapitel III. Phallismus in Indien. Phallus-Verehrung in Asien. Linga. Die Höhlen von Elephant. Lucian und der Tempel von Hierapolis. Zeremonie von Linga-puja. Die Frauen und der Lingadienst. Die Hindu und Kindersegen. Hochzeits-Tempel. Minderwerthigkeit der kinderlosen Frauen. Schravana und Dasaratha. Die zwölf Lingas. Argha. Stein-Verehrung. Unreine, entweihte Brahmanen. Brahmanen und Feuer. Fehde zwischen Linga- und Yoni-Verehrer. Sarti und Parvati. Kapitel IV. Mahadeva-Legende. Diodorus Siculus über Osiris. Ptolemäus Philadelphus. Die Vaishnavas. Hindu-Sekten. Seite 6 Anbetung der Matrix. Die weibliche Reproduktions-Verehrung. Fakirs und die Hindu-Frauen. Macht und Einfluss des Phallismus in Indien. Ursprung des Phallusdienstes in Indien. Hindu-Gebete. Kapitel V. Vergleiche zwischen Aegypten und Indien. Hindu-Soldaten in Aegypten. Brahm Atma, die atmende Seele. Wachstum der Hindu-Religion. Siwa-Verehrung. Benares. Lingayet. Eigenthümlichkeiten der Hindu-Symbole. Unparteiisches Urtheil über dieselben. Hinduismus als unsittlich verurtheilt. Kapitel VI. Crux Ansata und das Kreuz. Irrige Ansichten über das Kreuz. Heidnischer Ursprung des Kreuzes. Monumente und Grabdenkmale. Unveränderte Form des Kreuzes. Wirkliche Herkunft des Kreuzes. Das Kreuz im alten Amerika. Die Mond-Stadt. Das Malteserkreuz in vorchristlichen Zeiten. Dänische und indische Kreuze. Alte britische Kreuze. Ursprung des christlichen Kreuzes. Crux Ansata beschrieben. Alter desselben. Angebliche Bedeutung desselben. Der Nil-Schlüssel. Phallische Abstammung. Die Nil-Schlüssel-Theorie analysirt. Das Kreuz in alter biblischer Zeit. Crux Ansata das Symbol der Symbole. Crux Ansata als religiöses Symbol. Seite 7 Kapitel VII. Die Hebräer und Phallismus. Salomon und die heidnischen Götter. Alttestamentliche Charaktere. Die Verehrung von Hainen. Geweihte Säulen. Jakobs Säule zu Bethel. Phallusdienst bei den Hebräern. Ascherah und der Hain. Aschtoreth. Jüdischer Lingam. Salomons Laster. Baals Dienst. St. Hieronimus über Baal-peor. Jüdische Ansichten über Baal-peor. Götze Maachah. Seite 8
Theodor Reuss: "Lingam-Yoni oder Die Mysterien des Geschlechts-Kultus", facsimile re-print of the integral text by A.R.W. Hiram-Edition 14 1983 Gunta-Stölzl-Str. 9 D - 80807 München Deutschland / Germany Online ordering via email |
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